Takt und Stil Logo

Verlottert Deutschland? Knigges Hose bleibt heil

Ein Pressefoto will mir nicht aus dem Kopf gehen: Kürzlich angekommene Geflüchtete in meiner Stadt sollen das Umland kennenlernen. Für den Ausflug steht ein Bus bereit. Alle haben sich in Schale geworfen, tragen ihre Sonntagssachen. Nur die beiden deutschen Betreuerinnen wirken auf dem Gruppenbild in ihren angesagten zerrissenen Jeans wie ein Fremdkörper.

Es wird Loch getragen.

Löchrig wie ein Schweizer Käse, so lieben sehr modebewusste Frauen (Fashionistas) derzeit ihre Skinny Jeans. Die Hosen im extremen Used-Look sehen aus, als wären sie älter als ihre Besitzerinnen. Aufgeribbelte Säume, herabhängende Fäden – Stofffetzen, die lediglich von purem Optimismus zusammengehalten werden. Gekauft zu höheren Preisen als eine heile Hose. Auch Sneakers (Golden Goose), die schon zu ausgelatscht und schmierig erscheinen, um im Altkleidercontainer zu verschwinden, werden für umgerechnet 540 EUR im Luxuskaufhaus Barneys verkauft.
Mit diesen Vokabeln beschreiben die Hersteller die Art und den Grad der Stoffverletzung ihre zerschlissen Hosen: Distressed oder Destroyed Denim, Extreme Rips, Busted Knees, All-over Shredded, Cut-Out-Jeans, Underbutt-Jeans. Das Wort „distressed“ kann mit in etwa „gequält“/„geplagt“ übersetzt werden. Aber auch mit „unglücklich“/„verzweifelt“.

Uncooler Riss

Nicht jede Frau (schon gar nicht jenseits der 25!) kann diese Zerlumpung tragen. Und nicht jeder/m steht jeder Riss! Ganz schlimm oft das unglückliche Resultat, wenn rundliche Frau eine alte, hautenge Hose selbst zu einer ultracoolen Jeans zerschnippelt: Viel zu großer „Knie-Cut“! Und so sieht dann oft das hervorquellende Fleisch am Knie (vor allem bei Kälte) bläulich und irgendwie tot aus. „Aufgeplatzte Weißwurst mit Fadenresten explodierten Schweinedarms“, nannte es kürzlich ein Moderator. Wenn sich vor mir pralles Knie durch den Fransenschlitz quält, möchte ich vor lauter Mitleid schon mal ´nen Fuffi für eine unversehrte Hose zustecken.

Wieso macht man das Heile kaputt? Neu ist das ja nicht. Die längste Zeit war die Jeans eine Arbeitshose. Schaden erlitt sie nur durch natürliche Abnutzung. Hippies, Freaks und Rocker fanden in den 60ern eine sehr (!) getragene Jeans kultig. Der Used Look ist seit der 80er-Jahre angesagt. Unkonventionell und rebellisch war die Parole. Viele erinnern sich noch an das gute Stück, das, schon stonewashed gekauft, mit Bimsstein und Schmirgelpapier nachbearbeitet wurde. Heute tun Käsereibe, Stahlwolle und Fußfeile das Übrige. Im wahren Leben gehen Jeans an uncoolen Stellen kaputt. Wer viel radelt, weiß, was ich meine.

Null Botschaft

Heutzutage sollen zerschlissenen Jeans wohl von unbekümmerten Tagen im Sommer erzählen. Löcher sollen nicht provozieren. Wer morgens in eine zerrissene Jeans schlüpft, will womöglich nur als Freigeist erscheinen, auch wenn er in Wirklichkeit ein Konformist ist.
Mit diesem Arme-Leute-Look mag sicherlich niemand bewusst Elend simulieren und auf Wohlstand pfeifen, denn obenherum muss der Dress ja edel und teuer sein, sonst wirkt der Look billig. Wie pervers. In vielen Ländern der 3. Welt wären sie froh, ganze Kleider zu haben!

Kulturkritiker klagen: Die Leute wollen nicht mehr erwachsen sein. Die Fähigkeit, sich zu distanzieren, sich abzugrenzen und Frustrationen auszuhalten, geht verloren. Fürs Büro sollten, falls überhaupt, nur Bluejeans im Destroyed Look mit gaaanz wenigen Minilöchern und gebleichten Stellen gewählt werden.

Kleidung beeinflusst unser Selbstbild

Die Forschung der vergangenen Jahre zeigt, dass unsere Kleidung ein äußerst machtvolles Beeinflussungsinstrument ist. Nicht nur lenkt sie den Eindruck, den andere von uns haben, in eine bestimmte Richtung – sie hat auch eine durchgreifende Wirkung auf uns selbst. Stimmung, Selbstbild, sogar Konzentration und Denkvermögen lassen sich durch eine gekonnte Auswahl des Outfits steuern (Psychologie Heute, 2016).

Kurz ausgedrückt: Wer übergreifende Probleme zu lösen hat, sollte nicht in T-Shirt und Schlabberhose darangehen. Denn ein Anzug oder ein Kostüm vermittelt dem Träger: „Ich habe Macht.“ Und wer Macht hat, kann sich eher ums große Ganze kümmern. (Prof. Bettina Hannover/Prof. Ulrich Kühnen)
Die wichtigsten Gründe, warum wir uns herausputzen, sind im Ranking von Platz eins „sich selbstbewusst fühlen“ über „sich wohlfühlen“ und „als Selbstausdruck“ bis Platz neun „in den Hintergrund treten“. Wenn wir anderen signalisieren, dass wir uns um uns selbst kümmern, sehen uns andere eher als jemanden, der es wert ist, dass man sich (auch) um ihn kümmert. Attraktive Kleidung anzuziehen, die einem steht, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass uns andere positiv behandeln, was wiederum uns, dem Träger der Kleidung, ein gutes Gefühl gibt.

Kleidung drückt auch immer die Einstellung und die Wertschätzung für den Ort aus, an dem sie getragen wird. Schade, dass ich keine Gelegenheit hatte, mit den Geflüchteten auf dem Zeitungsfoto zu sprechen. Wie sie wohl die Kleiderwahl der Betreuerinnen wahrgenommen haben? Susanne Helbach-Grosser (2017)

2023: Heutzutage ist „distressed denim“ so unangepasst wie ein Cheeseburger in einem Szenerestaurant, meinte kürzlich eine Moderedakteurin. Der Look wird längst nicht mehr als Provokation verstanden. Auf Blogs teilten Denim-Liebhaber*innen Fotos (sehr teurer) aus Japan oder Amerika importierter Jeans und in Internet-Foren wird darüber diskutiert, wie sich die schönsten Fadings bilden.