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Die gestochene Gesellschaft – War Knigge tätowiert?

Seit der Mensch durch Zeichen kommuniziert, spielen Tätowierungen eine besondere Rolle. Jeder fünfte Deutsche soll schon dauerhaften Körperschmuck haben. Tendenz steigend.

Ich bekenne mich hier zugehörig zu denen, die keinen Sinn darin sehen, mutwillig die eigene Haut zu verletzen. Zwischen Faszination, Erschrecken und Schauder blicke ich auf zum Teil grotesk „entstellte“ Unterarme, die mir in der Gastronomie, im Wäschegeschäft, Krankenhaus, in der Physiopraxis unter die Nase gehalten werden (nicht unbedingt dort, wo ich es erwägen würde). Ich suche Erklärungen dafür, welche Menschen sich warum Tattoos stechen lassen. Und finde sie.

Der modifizierte Body ist heutzutage in allen Schichten, Milieus und vielen Ländern anzutreffen.
Ein gesellschaftliches Massenphänomen der Gegenwart? Keineswegs: „Der Mensch hat seinen Körper immer schon als Repräsentationsfläche gesehen, ihn verändert, bearbeitet, geschmückt“, sagt Professorin Aglaja Stirn, Uni Kiel. Der unversehrte Körper war nur in der griechischen Antike ein Ideal, ansonsten wurde der junge Mensch in traditionellen Stammesgesellschaften (Maori, Aborigines …) durch ein (Zwangs-)Tattoo in die Gemeinschaft aufgenommen. Lebenslänglich. Japanische Verurteilte/Underdogs wurden schon im 17. Jahrhundert als Abtrünnige gebrandmarkt.
Klar, sich stechen zu lassen, ist heute eine freie Willensentscheidung. Oder doch wieder eine Art Druck in unserer haltlosen, modernen Freiheit?

Wer will ich sein? Mein Körper gehört mir, und das gesteigerte Bedürfnis nach Einzigartigkeit (need for uniqueness) kann ich durch Körperschmuck erreichen. Mein Körper wird zum Objekt. Individualität? Eher nicht.

Am Ende entscheidet man sich für kommerziell vorgefertigte „angesagte“ Symbole. So ist man nicht allein mit seinem Individualitätsausdruck, und erfährt das stilistische Gruppenerlebnis als Schutz.

Imposanz-Verstärker des eigenen Auftritts

Georg Simmel beschrieb das Dilemma schon vor 100 Jahren: Ein JA zu mehr Individualität, aber gleichzeitig die Angst vor der „heroischen“ Einsamkeit. Darum sucht man Zuflucht in einer allgemeingültigen Inszenierungsform, weil sich das Ich doch nicht allein tragen kann.
Robert Gugutzer, Professor für Sportsoziologie an der Universität Frankfurt am Main ist überzeugt: Es geht im Grunde um Sozialstatus, um den Wunsch nach Einzigartigkeit.
Wir sind eine eitle Gesellschaft geworden.

Die gängige Selbstwahrnehmung eines „Nobody“ ist: Ich muss erst jemand werden, um wirklich ich selbst zu sein. Oder wie Martin Heidegger (deutscher Philosoph, 1889 – 1976) es wendet: Im Klima der von vielen empfundenen Bedeutungslosigkeit in der Gesellschaft entsteht der gestiegene Wunsch nach mehr sozialer Wirkung. Selbstbilder werden nicht mehr allein durch Habitus und Lebensstil ausgedrückt, sondern durch immer härtere Formen. Da muss die Not groß sein. „Tattoos sind Versuche, die eigene unsicher gewordene Identität wieder zu erlangen.

Wie kann die eigene Attraktivität gesteigert werden? Durch Einkommen, Bildung, Berufsprestige und bestimmte Fähigkeiten erhalten wir einen hohen Status. Und eben durch Schmuck. Dazu muss sich traditioneller Schmuck, genauso wie Tattoos oder Piercings an den im Alltag sichtbaren Stellen des Körpers befinden. Nur so kann das Selbstbewusstsein seines Trägers und die hohe Bedeutung, die er sich selbst beimisst, ausgedrückt werden. Betroffene scheinen sich dieser Wirkungsweisen durchaus bewusst zu sein. Franck Ribéry, Fußballprofi beim Verein Bayern München: „Nein, ich brauche keine Tattoos. Ich bin schon stark.“

Mit der Moderne geht der Verlust der alten traditionellen Identität einher. Das traditionelle Tattoo war Ausdruck von Identitätsempfinden in archaischen Gesellschaften und versinnbildlichte eine regionale oder stammesgemäße Eigenart. Das moderne Tattoo dagegen ist Identitätsausdruck im Do-it-yourself-Zeitalter. Heute bin ich der, den ich aus mir mache. Was ich auf meine Haut einschreibe, wie ich mich definiere: Das bin ich.“

Zeitgeist ist eine ganz flüchtige Ware. Was genau tätowiert wird, unterliegt eindeutig Moden (Tribals – das populäre „Arschgeweih“, Schriftzeichen, Mandalas, geometrische Figuren, Portraits …).
Was geschieht, wenn Tattoos den Mainstream erreicht haben? Ein Blick auf die Fußball-Bundesliga zeigt: Wo besonders viele damit unterwegs sind, verliert auch das Tattoo immer mehr seine Exklusivität. Bald macht nur noch der Umfang der tätowierten Oberflächengröße den Unterschied – bis hin zum sogenannten „Tattoopullover“. Mit der Gesamttätowierung ganzer Körperteile oder gar des ganzen Körpers sticht man dann wieder heraus.

Ein Tattoo als Therapie?

Menschen wollen mit dem Stechen eines Körperbilds auch Erlebnisse verarbeiten, einen Lebensabschnitt festhalten, Wendepunkte markieren. Die Psychologin Susan Samuel stellte fest, dass die Erinnerungs-Tattoos mehrere Funktionen haben: Viele Trauernde nutzten sie als persönliche Symbolisierung der verlorenen Person. Der Verstorbene bleibt physisch ein Teil von einem. Für andere seien Tattoos eine Möglichkeit, ihre Trauer zu kommunizieren. Wenn die Haut langsam heilt, dann heilt auch die Seele.

Kommunikationswissenschaftler stellten fest, dass auch sonst Tattoos oft eine Einladung zur Kommunikation sind. Je stärker eine Person ihrem Tattoo einen Kommunikationswert beimisst, umso sichtbarer wählt sie die Stelle für ihr Tattoo. Aha – logisch!

Nichts, was es nicht gibt:

  • Corporate tattoos sindtätowierte Markenlogos oder Werbeslogans
  • Tattoos sollen sogar bei der Partnerwahl sinnvoll sind. Sie dienen als handicap signal und sollen dem Betrachter demonstrieren, dass der Tattooträger stark und gesund ist. So stark, dass er oder sie sich sogar die medizinischen Risiken eines Tattoos leisten kann, so die Theorie der Biologin Silke Wohlrab. Naja, die empirischen Befunde sind hier widersprüchlich
  • Tätowierungen und Literatur – nicht mehr wegzudenken. Eine Ausdrucksform, die für mich eher keine Peinlichkeit darstellt, weil sie (meist) ästhetisch daherkommt. Lady Gaga ziert ein (übersetzter) Auszug aus Rainer Maria Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“, auf Johnny Depps rechtem Arm hat William Shakespeare das Sagen, Brad Pitts linker Arm weiß um Jean-Paul Sartres „Absurdités de l’existence“ – die Absurditäten des Lebens und den Rücken von Evan Rachel Wood zieren Zeilen aus einem Gedicht von Edgar Allen Poe.
  • Tattoos mit fremdländischen Schriftzeichen sind total trendy – nur Eingeweihte entdecken fatale Schreibfehler! Überliefert ist das Tattoo eines Mannes, der seinen Namen per Google ins Russische übersetzen wollte.

Auf seinem Rücken steht nun: „Keine Übersetzung gefunden“. Susanne Helbach-Grosser (Nov. 2019)