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Das Corona-Virus wirbelt unsere Umgangsformen durcheinander.

Ein Quäntchen Gutes ist der Corona-Pandemie doch abzugewinnen: in kürzester Zeit sind neue Umgangsformen entstanden. Ist nun wieder stilvoll was vorher oftmals unschön daherkam?

Es ist Juni im Jahr eins mit Corona.

Mit dem Sommer steht uns die geselligste Zeit des Jahres bevor.Das unbändige Bedürfnis nach Abwechslung ist überall spürbar.

Wir erinnern uns an die Vor-Corona-Zeit. Restaurantbesuche mit der Familie oder Freunden waren unkomplizierte Angelegenheiten. Spontan auch der Abstecher in den Biergarten nach Dienstschluss mit Kollegen. Bistros und die gesamte Außengastronomie boomten. Laissezfaire war angesagt. Mit all den kleinen Aufregern in Bezug auf Stil.

Der Mensch hat einen Sinn fürs Praktische. Passt etwas nicht, wird es passend gemacht. Irgendjemand übernahm vor Corona zupackend die Regie: War die Gruppe größer als geplant, wurden flugs Tische eigenhändig zusammengestellt, Stühle geschleppt, Speisekarten organisiert, Kerzen entzündet. Man kannte und liebte seinen Wird: „Hallo, altes Haus, da sind wir wieder“, Schulterklopfen, Bussi-Bussi.

Die Wirtsleute kennt man immer noch – es liegen ja nur einige Monate dazwischen. Aber die alte Zeit des Essengehens ist erst einmal vorbei.

Vor – während – nach/mit Corona: Ein- und Ausblicke.

1. Als Gast wesentliche Serviceaufgaben zu erledigen, wie Mobiliar verrücken, war noch nie erwünscht (wegen der Laufrichtung der Servicekräfte, Trinkgeld-Sektionen, Gefahr bei Gefahr). Abstand halten lautet nun das Gebot der Stunde, was ziemlich gut geht, denn nirgends ist es mehr proppenvoll. (Dieses Virus ist für viele Gastronomen ein Riesenschlag ins Kontor!) Größere Gruppen möchten möglichst nah beisammensitzen. Verständlich. Es werden deshalb vorab zwei Tische nebeneinander reserviert. Serviceaufgaben sind keine Gastaufgaben – also Hände weg von den desinfizierten Utensilien.

2. Sich lautstark über die Tische hinweg zu unterhalten, störte einst andere Gäste. Den Abstandsregeln geschuldet, darf es nun auch mal etwas geräuschvoller zugehen. Bei der Ankunft zur Begrüßung auf den Tisch klopfen, war eher eine Stammtischgeste. Sieht jetzt nicht weniger poltrig aus – es gibt doch passende andere Begrüßungsformen ohne Hautkontakt.

3. Gewaltige Weinkarten vom Umfang einer Gutenbergbibel und zum Teil unhandliche, Leder-gebundene Speisekarten waren normal, jedoch weder hygienisch noch smart. Der Trend geht über zur persönlichen Beratung, an den Tisch gestellte Tafeln mit begrenzter Auswahl, Einmal-Speisekarten oder online zugeschickte Informationen. Ein QR-Code kann zum Beispiel auf die Tischwäsche gedruckt werden, Gäste bestellen dann direkt über ihr Mobiltelefon.

4. Schon in der Vor-Corona-Zeit bedienten sich viele Gäste lieber selbst aus der Flasche – vor allem bei Geschäftsessen; so wurden Gespräche nicht unterbrochen. Getränke in Flaschen bestellen und sich selbst bedienen – dieser Trend wird zunehmen.

5. Nicht nur Hygiene-Apostel ekelten sich vor der gemeinsamen Benutzung von Gewürzen bei Tisch. Zu Recht. Pfeffermühlen und Salzstreuer sind die größten Bakterienschleudern im Restaurant (nicht etwa die Toiletten!) und verschwinden nun von den Tischen. Gäste bringen sich entweder die Gewürze selbst mit (z. B. ihre handliche Pfeffermühle) oder bitten die Küche um eine kleine private Portion.

6. Hemmungslos wurde Essen geteilt, Dessertteller rumgereicht, in Chips-/Nüsschen-/Gummibärchen-Schalen gegriffen und sich aus gemeinsamen klassischen Brotkörben bedient. Man schnabulierte vom Nachbarteller, bis die Gabel tropfte. Sensibilisierte Gäste stocherten allerdings noch nie in fremden Tellern herum oder tauschten diese nach Belieben – denn eingedecktes Geschirr wird nicht vom Gast verrückt. Besser: Servicekraft bitten, unserem Mitesser einen Probierhappen auf einem Extrateller anzubieten.

Kulinarisches Beisammensein hin oder her: Verpönt werden in Zukunft Shared-PlateGerichte sein, bei denen sich mehrere Personen mit der eigenen Gabel über die Gemeinschaftsplatten hermachen. Gerade erst en vogue, schon überholt. Interkulturell wird wohl ein noch größeres Umdenken stattfinden müssen: In vielen Ländern dieser Erde hat das Teilen von Lebensmitteln sowie das gemeinsame Essen eine höhere Priorität als bei uns (Beispiel Südkorea: fünf Freundinnen – fünf Löffel und ein Eisbecher XXL).

Brot wird wohl demnächst portionsweise mit der Brotzange angeboten, wie in der „Trüffel-Klasse“ schon lange üblich.

7. Mit Gläsern anstoßen – wild durcheinander und zu jeder Gelegenheit war noch nie wirklich angebracht und sowieso schon auf dem Rückzug. Aus Hygienegründen ist nun lediglich Zuprosten angesagt.  

8. Der Nahkampf am Hotelbuffet. Sprichwörtlich! Anstellen in gebührendem Abstand lernten wir in den letzten Monaten. Man übt sich in Geduld und fühlt sich very British. Im Grunde mag ja der Mensch seine eigene Distanzblase. Hat er in der Warteschlange ausreichend Abstand, fühlt er sich ungestört und kann noch handeln. Berührt ihn jemand – oder er selbst den Vordermann aus Versehen – ist eine Entschuldigung fällig.

9. Auch das üppig bestücktes Frühstücksbuffet im Hotel zeigt nun deutlich, dass die köstliche Vielfalt Risiken birgt. Ahnten wir schon immer. Wenn viele Leute denselben Schöpflöffel anfassen oder eng nebeneinanderstehend nach dem Lachs langen, finden Viren routiniert den Weg zum nächsten Wirt. Da bringt auch der „Spuckschutz“ – festverankerte Plexiglasscheiben über den Speisen – wenig. Es spricht nichts dagegen, dass Gäste am Vorabend oder gleich früh ihr Frühstück online auswählen. In der hochbesternten Hotel-Kategorie ist individuelles Bestellen üblich. Dort allerdings wird das Dejeuner dann auch entsprechend präsentiert, wohingegen es in Allerwelts-Hotels in der lieblos hergerichteten (Corona-Picknick-Papiertüte) auf seine Konsumenten wartet. Kalte Eier inklusive.

10. Bezahlt wurde immer noch gerne mit Bargeld (oder nach Kartenzahlung der Tip in bar dazugelegt). Electronic Cash ohne Überreichen der gedruckten Rechnung nimmt zu. Hoffen wir, dass das Trinkgeld auch weiterhin bei den Mitarbeiter*innen ankommt. (Schmunzel-)Schnee von gestern: Weibliches Service-Personal soll ja angeblich ein höheres Trinkgeld bekommen, wenn es die männlichen Gäste beim Auftragen im Schulterbereich leicht berührt. Auch, wer sich beim ersten Kontakt kleinmacht, indem er sich zum Gast an den Tisch hockt, erhöht seinen Tip.

11. Durch die gegenwärtige Sensibilisierung – vor allem in Bezug auf Hygiene – werden Gäste auch schneller ein sauberes, gut geführtes Restaurant erkennen können. Clevere Gastronomen und Köche tüfteln die Branche von morgen neu aus. Alles Unsinnige könnte jetzt überdacht werden. Der Gastrokritiker Wolfgang Fassbender beschrieb kürzlich in der NZZ das Restaurant in der Zeit nach/mit Corona: Es gäbe, solange wir noch nicht von Drohnen bedient würden, Service am Tisch – natürlich unter Bedingungen. Erste Restaurants würden neue Tische installieren, bei denen der Gast das Besteck selbst einer unter dem Tisch angebrachten Schublade entnehmen könne. Und die silbernen Hauben (Cloches) würden ein Revival erleben – wenn auch nur als Kunststoff-Pendants. Sie würden als Schutz vor Verunreinigungen der Speisen auf dem Weg von der Küche zum Gast eingesetzt. In der gehobenen Gastronomie kennt man sie schon sehr lange – allerdings eher zum Warmhalten der Speisen – oder um die Preise zu rechtfertigen.

Etikette lehnt sich immer an den Zeitgeist an. Das ist gerade schön zu beobachten. Die Grundregel im zwischenmenschlichen Umgang bleibt bestehen: Umsicht, Rücksicht und Nachsicht zum Wohle aller. Dennoch wird manches, was bis vor Kurzem noch ganz normal war, inzwischen als deplatziert empfunden. Wir bleiben wachsam und hoffentlich alle gesund. Susanne Helbach-Grosser, Juni 2020