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„Anstandshäppchen“

Stellen Sie sich vor, Sie haben Freunde eingeladen. Sie sind auf den Markt gegangen und haben ein schönes Stück Fleisch gekauft, ein Kaninchen vielleicht. Das haben Sie dann mit wenig Mühe, aber doch mit Liebe und viel Gemüse-Geschnipsel einen Nachmittag lang zubereitet. Nun ruht es im Ofen und Ihre Gäste kommen. Allen wird es schmecken. Glauben Sie. Aber dann lassen fünf der sechs nicht nur Knöchelchen, sondern auch allerlei Genießbares auf ihrem Teller liegen. Wie fühlen Sie sich dann?

Eben. Da können die anderen noch so beteuern, ja, sicher, es habe geschmeckt.

Anstandshäppchen: Diese Esskultur-Regel stammt aus einer Zeit, als das Nahrungsangebot begrenzt war und es als Zeichen des Wohlstands galt, den eigenen Überschuss zu zeigen – um nicht zu sagen, damit zu protzen. Die Teller der Gäste wurden so vollgeladen, dass es unmöglich wurde, sie leer zu essen. Oder andersherum: Wer es schaffte, unterstellte dem Gastgeber, dass es nicht genug war.

Die Regel hat aber auch einen anderen Ursprung: Das ostentative Nicht-Aufessen kann als Zeichen der Vornehmheit gewertet werden. Vielleicht erinnern Sie sich an die Szene in dem Südstaaten-Epos Vom Winde verweht, in dem die Heldin Scarlett O’Hara sich vor einem Empfang noch sattessen soll, damit sie später nur wie ein »Spätzchen« ein paar Krumen picken würde. Die Demonstration von Selbstbeherrschung hat in unserem Kulturkreis im Allgemeinen und insbesondere in puncto Essen seither abgenommen. Heute tut einem das Mädchen leid. In Ostasien hingegen ist es mancherorts noch immer üblich, als letzten Gang ein Schälchen puren Reis zu servieren. Und das sollte man tunlichst nicht anrühren.

Sind wir in Europa, dürfen wir essen, was uns schmeckt, und sollten das auch tun. Es ist höflich. Inwieweit man dabei auch mit Brot stippen darf, liegt wohl mehr daran, ob es um Soße oder um Sauce geht. Wirklich unhöflich ist nur, sich den letzten Rest vom Servierteller zu nehmen, ohne die anderen zu fragen, ob sie auch noch gerne etwas hätten. Susanne Helbach-Grosser (12. 2009)