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Thanksgiving

Wer dieser Tage einen USA-Besuch plant, sollte nicht unbedingt den 24. November und das darauffolgende Wochenende dafür wählen.

Denn Thanksgiving steht vor der Tür. Wie jedes Jahr am vierten Donnerstag im November sind alle Verkehrsmittel sowie die Autobahnen proppevoll. Ganz Amerika scheint unterwegs zu sein, um mit der Familie, mit Freunden Erntedank zu feiern. Flüge und Hotels sind an diesem langen Wochenende überteuert, Bars und Clubs außergewöhnlich frequentiert. Wer allerdings Trubel mag, ist hier bis zum Dienstag richtig: Thanksgiving-Paraden (Macy’s in New York), das alljährliche Footballspiel und shoppen, bis die Kreditkarte krampft. Der Dienstag nach dem Dankfest ist der „day to give“. Charity ist dann angesagt.

Das Einzige, was Deutschland mit dem amerikanischen Erntedank gemein hat, sind die Gottesdienste, die bei uns jedoch konfessionell abhängig sind und seit 2010 das Einkaufen auf Online-Plattformen (Gründer: Amazon). Glaubt man shop.org, dann gleichen die Amerikaner am Brückentag „Black Friday“ in den Läden ihrer Shopping Malls die Preise ab, um dann am „Cyber Monday“ im Internet zuzuschlagen – garantiert nochmals günstiger.

Dankbarkeit für die „Neue Welt“

Niemand weiß genau, auf wen der Brauch dieser Festlichkeit zurückgeht. Kann sein, dass er zum ersten Mal im Mai 1541 von spanischen Kolonisten und den Ureinwohnern im Stamm der Caddo (heute Texas) begangen wurde. Gerne wird die Ursprungs-Erntedank-Feier auch den Pilgervätern im Jahr 1621 zugeschrieben, als die erste Ernte in der „neuen Welt“ zufrieden stellend ausfiel.
Die romantische Story
Am 21. November 1620 gingen 102 europäische Siedler von der „Mayflower“ im jetzigen US-Bundesstaat Massachusetts an Land. Sie gründeten eine Kolonie und benannten sie nach ihrem englischen Heimatort: Plymouth. Im folgenden November feierten sie gemeinsam mit den einheimischen Wampanoag-Indianern das Erntedankfest. Zack. Thanksgiving war geboren. Mit den ganzen Leckereien, die in lieber Tradition noch heute auf den Tisch kommen. Lernt jedes amerikanische Kind.

Die realistische Story

Die Zahl der Auswanderer war durch Krankheit und Erschöpfung auf die Hälfte dezimiert. Als die Vorräte an Bord aufgebraucht waren, bewahrten die barmherzigen Mitglieder des Wampanoag-Indianerstammes die Kolonisten vor dem wahrscheinlichen Hungertod. Sie lehrten sie auch Mais anzubauen, der im folgenden Jahr ertragreich gewesen sein soll.

Die gereichte Speisefolge vom „First Thanksgiving Dinner“ 1621 kann so (auch) nicht aufrechterhalten werden. Bis heute werden traditionell ursprünglich nordamerikanische Lebensmittel serviert, als da sind: Truthahn (Roasted Turkey) mit Corn Bread Stuffing, Süßkartoffeln (Sweet Potatoes), Kürbisgemüse (aus Squashkürbis), grüne Erbsen, Mais, Cranberry-Sauce, Apfel- und Kürbiskuchen und andere Torten und Desserts.

Ich will jetzt hier mal richtig kleinlich rüberkommen, darum schauen wir doch mal genauer hin: Gouverneur William Bradford (1590-1657) war an Bord der Mayflower. Aus dem Tagebuch des Chronisten Edward Winslow erfahren wir, dass besagter Gouverneur zum ersten Dankesfest einige Männer auf „Vogeljagd“ schickte. So kam wohl der Truthahn ins Spiel. Die Pilger hätten für dessen Zubereitung über einen funktionstüchtigen Ofen verfügen müssen, was sie nicht taten! Für die sehr süße und äußerst leckere Cranberry-Sauce benötigt man ordentlich Zucker. Ebenso für das ganze andere Naschwerk. (Torten waren übrigens zu diesem Zeitpunkt unbekannt.) Zuckerreserven gab es kaum auf der Mayflower und er stand auch erst etliche Jahrzehnte später zur allgemeinen Verfügung. Butter und Weizenmehl waren nicht zu bekommen. Auch Süßkartoffeln (Bataten genannt) sollen zu der Zeit noch unbekannt gewesen sein. Diese Windengewächse dürfen nicht mit Kartoffeln verwechselt werden. Letztere brachte Columbus von den Inkas in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Europa.

Kommen wir wieder in die Gegenwart. Jedenfalls wurde der Thanksgiving Day 1863 durch Abraham Lincoln in den Stand eines gesetzlichen Feiertags erhoben. Fortan wurde und wird am jährlichen Stichtag gehobelt, geschnippelt und gebrutzelt, was der Einkaufskorb hergibt. So um die 70 Millionen Truthähne sollen jährlich in den Herbst-/und Wintermonaten in den USA verspeist werden.

Obwohl ein staatlicher Feiertag, ruft ihn der Präsident ein paar Tage vorher offiziell aus. Bei dieser Gelegenheit erhält er von den Industrieverbänden auch immer einen lebenden Truthahn – ein wahres Prachtexemplar. Um dessen Hals baumelt eine Marke:

„Good Eating Mr. President!“

John F. Kennedy soll der erste Präsident gewesen sein, der das Tier nicht schlachten wollte. Seit 1989 (George H. W. Bush sr.) wird der Vogel offiziell jedes Mal als ein Akt der Wiedergutmachung begnadigt – ähnlich wie bei den Begnadigungen von Verbrechern üblich, erst kurz vor der „Hinrichtung“, also an Thanksgiving.

Die Vorstellung, dass Barack Obama nun bald acht amnestierten Riesenvögeln hinterm Weißen Haus Asyl gewährt, kann leicht zerstreut werden: Das verschmähte Präsidenten-Geflügel und sein Vize – ja, es sind stets zwei, falls sich das erste daneben benimmt – dürfen sich noch bei Thanksgiving-Paraden präsentieren. Wikipedia weiß, dass die Hähne aufgrund zuchtbedingter Gesundheitsprobleme typischerweise innerhalb eines Jahres nach der Zeremonie sterben.

Die Speisetafel ist der einzige Ort, an dem man sich niemals während der ersten Stunde langweilt. Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826), frz. Schriftsteller u. Gourmet. Susanne Helbach-Grosser (2017)